Donnerstag, 11. September 2008

Die heilige Kuh. Erster Teil

Wer bei dem Titel an niedliche große Tiere mit meterlangen Wimpern denkt, liegt leider völlig falsch.

Gemeint ist die heilige Kuh der Engländer. Das NHS - National Health System. Oder auch: die gesetzliche Krankenkasse in Großbritannien.
Laut Umfragen hält ein Großteil der Engländer das NHS für das beste Gesundheitswesen der Welt. Für mich wäre es ein Grund wieder auszuwandern.
Einen Vorteil hat es: man ist automatisch versichert. Arbeitet man, wird ein gewisser Prozentsatz vom Gehalt einbehalten. Arbeitet man nicht, ist es kostenlos. Auch für Ausländer, die in GB Urlaub machen, ist die Behandlung im Krankenhaus kostenlos.

Allerdings muss man sich viel mehr selbst um Vorsorgeuntersuchungen kümmern als in Deutschland. Augenuntersuchungen, Brustkrebsvorsorge muss privat gezahlt werden. Gebärmutterhalskrebsvorsorge ist nur alle drei Jahre - dann wird man allerdings per Brief dazu aufgefordert. Seit ich in GB lebe, habe ich noch keinen Gynäkologen gesehen.

Zuzahlungen für Zahnbehandlungen - ausser man ist Sozialhilfeempfänger, Schwanger oder hat gerade geboren, sind ebenso verpflichtend. Wenn man einen Zahnarzt findet, der noch auf NHS Basis behandelt. Denn die werden auch immer weniger.

Als unsere Tochter Paukenröhrchen bekommen sollte, dauerte es fast ein Jahr bis sie auf dem OP Tisch lag. Und dann hatte ich durchaus etwas Panik wegen den multiresistenten Bakterien, die hier vermehrt rumschwirren. Klar, es gibt ja bei jedem kleinen Schnupfen schon Antibiotika!

Die richtige Problematik des NHS wird jedoch bewusst, wenn man darauf angewiesen ist.

Ich fiel im August 2006 die Treppe runter. Klar. Mir tat alles weh, aber ich dachte das wird. Als wir im November in Deutschland zu besuch waren, wurden die Schmerzen stärker und ich ging dort zu einem Orthopäden. Er stellte fest, dass die lange Bizepssehne angerissen oder gerissen ist. Zurück in England ging ich zu unserer damaligen Hausarztpraxis. Je nachdem wo man lebt, muss man sich bei einer Praxis registrieren lassen und darf dann auch nur noch dort hin gehen. Natürlich mit Termin. Denn einfach mal so, ohne Termin - das geht hier gar nicht.
In der Hausarztpraxis waren zehn Ärzte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits neun Ärzte durch. Die zehnte Ärztin war frisch von der Uni, hatte keine Ahnung und sagte: Ich setze sie gleich mal auf die Notfallliste für einen Termin beim Orthopäden.

Sieben Wochen später war es dann soweit. Mein Notfalltermin. Im Krankenhaus. Denn Fachärzte einfach so gibt es kaum und wenn nur privat.

An der Rezeption angekommen wurde ich zum Röntgen geschickt.
Ich dachte dort werden sich Spezialisten meine MRT Bilder ansehen. Aber nö.
Mir wurde ein Flügelhemdchen und eine Plastiktüte in die Hand gedrückt und sollte mich ausziehen.
Halbnackt durfte ich mit 30 anderen Leuten im Wartezimmer platznehmen.
Ich wurde aufgerufen.
Meine Befürchtung bewahrheitete sich. Ich sollte geröngt werden.
Ich schaute zu meinen MRT Bildern und sagte:
"Ich habe doch alles dabei. Ich habe nichts an den Knochen."

Keine Chance. Ohne Röntgen kein Arztbesuch. Basta!

Zurück auf der Station wartete ich wieder.
Ich wurde aufgerufen.

Fünf in Anzug gekleidete Ärzte drängten sich in einem 8 qm Raum und untersuchten mich. Hm. Also auf dem Röntgenbild sei nix zu sehen.
Ich bekam einen hysterischen Lachanfall und sagte: Ja, das wisse ich.
Warum ich denn dann da sei?! fragte mich der dänische Arzt.

Ich erklärte, die Bilder wurden sich angesehen und hmm... eine OP.
Vier Wochen Arm gar nicht bewegen, weitere vier Wochen so gut wie nicht.
Mir brach der Schweiss aus.
Mann von 7 - 19 Uhr unterwegs. Kleinkind. Keine Familie. Keine Hilfe. Haushaltshilfe auf NHS Kosten gibts nicht.
Nach Absprache mit deutschen Ärzten rief ich im April an und sagte die OP ab und fragte nach Krankengymnstik.

Ja, das würde man machen können.
Die Tage gingen ins Land.
Und nach zehn Wochen bekam ich den Anruf: Wir haben einen Termin für Sie!

Juchu.

Auch die Krankengymnstik findet im Krankenhaus statt. Und die Physiotherapeuten tragen zumeist Anzug. Sehr befremdlich.

Weiter befremdlich fand ich die Abstände der Phsyiotherapie. zwischen vier und sechs Wochen lagen zwischen den Terminen.
Aber ich übte fleissig und machte Fortschritte.

Im Februar sagte mir mein Therapeut, dass er jetzt wieder weg sei. Alle acht Monate würde gewechselt. Das ganze Personal bis auf den Chef geht weiter zu einer anderen Klinik. Sauber, dachte ich.
Die folgende Krankengymnastin war leider nicht mehr so gut und Anfang April wurde ich rausgeschmissen. Ähm. Ich meine zurücküberweisen. Zum Orthopäden. Den ich in der Zwischenzeit kein einziges Mal gesehen habe übrigens.
Heute nun hatte ich den Termin. Ohne Flügelhemdchen.

Von einer OP riet mir der spanische Arzt ab. Dazu wäre meine Muskulatur zu gut. Das könnte ich auch noch später mal machen, wenns denn notwendig wäre.
"Und was für einen Rat können Sie mir geben? Ich wache seither jede Nacht mehrfach mit Schmerzen auf?!"
"Schmerzmittel?"

Ich leierte ihm ein weiteres Rezept für Krankengymnastik aus den Rippen.

Wartezeit: acht Wochen.

Halleluja!

11 Kommentare:

  1. Meine Güte :-o
    Ich kenne die Story ja ...Kapitelweise aber so als Buch ist es noch unglaublicher.

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  2. Krank sein in England ist echt nicht lustig.

    Aber das hatte ich schon mal erwähnt *seufts*

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  3. wie waers mit einem verlaengerten Besuch in Deutschland, wenn wieder Schulferien sind? Wartezeit bis dahin waere sicher aehnlich lange, wie Du sie derzeit in GB ertragen musst, nur bekommst Du in D hintereinander weg die Behandlung ...

    unglaublich wirklich..

    Darf ich nochmal fragen, warum Ihr dort eigentlich ausharrt?

    Ach, und gute Besserung, richtig, nicht nur durch Schmerzmittel!

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  4. Ohgottogott.
    Mein Englandbild bekommt jetzt aber heftige Kratzer. Da schwärme ich von deiner britischen Schule und lese nun diese Horrorgeschichte über das Gesundheitssystem . Unglaublich.
    Da ist der gesunde Geist nicht im gesunden Körper.
    Aber mein zweiter Gedanke war dann auch: Lass das doch in Deutschland richten. Solange hier noch gute schlechtbezahlte Ärzte ihren Dienst tun.
    Ich wünsch dir viel Kraft, das durchzustehen.

    grüße von griselda

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  5. Leider übernimmt das englische Gesundheitswesen nur die Behandlung im Ausland, wenn es ein Notfall ist. Bei einigen Sachen kann man die Kosten im Nachhinein wieder einklagen, weil es beispielsweise zu lange dauerte (oftmals die Wartezeiten auf Hüftops etc!)

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  6. oh je, du ärmste! das gibt uns ja schon mal einen kleinen vorgeschmack, was auf uns mit gesundheitsreform etc. zukommt!
    gute besserung!

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  7. Mito: Im Gegensatz zu England hat Deutschland noch einen Gold-Standard.
    Mein Mann arbeitet in dem Bereich und daher habe ich ein bisschen Einblick.
    *seufts*

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  8. ach mensch....kannst du nicht einen *ichgehmalzumarzturlaub* hier machen??? ich biete dir auch ein quartier an!!!

    was euer gesundheitssytem angeht....das "predige" ich schon seit jahren! die menschen in deutschland sind sich wirklich nicht im klaren darüber, WIE gut es ihnen hier geht!

    aber egal.....hoffe, du findest für dich eine lösung!

    lg, lina

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  9. Lina: wir hoffen auf die freie Arztwahl in Europa!
    Denn selbst mit privater Zusatzvorsorge erkauft man sich quasi nur einen besseren Listenplatz. Und im Notfall (also wrklich Notfall) gibt es ja noch das A&E - und privat gezahlte Krankengymnastik *seufts*

    Aber das Gejammere in Deutschland: Die meisten wissen nicht wie gut sie es haben. Schon alleine die freie Arztwahl!

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  10. da haste leider recht, dass die meisten gar nicht wissen, wie gut's bei uns ist! und deswegen merken sie auch nicht, was z.B. mit den geplanten gesundheitszentren und der abschaffung der hausärzte so auf uns zukommen kann!

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  11. mito: generell finde Gesundheitscentren, also verschiede Facharztrichtungen unter einem Dach und etwas koordiniert gar nicht so schlecht, WENN man die Wahl hat ob man es nutzen will oder nicht!
    Hier muss man um jede Überweisung zum Facharzt KÄMPFEN!
    Meine Hausärztn verweigerte uns schlicht die Überweisung zum HNO für das Kind. Ich hatte das Gefühl, dass die Polypen doch extrem zu groß sind.
    Gott sei Dank konnte ich den Operateur beim Röhrchen setzen davon überzeugen nachzusehen und sie zu entfernen! Sie WAREN viel zu groß!

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